Wenn Ingetraut Gillmeister das Kinderdorfhaus „Nordlicht“ betritt, wird sie sofort stürmisch begrüßt. Die 71-Jährige engagiert sich seit 2016 ehrenamtlich im Albert-Schweitzer-Familienwerk Mecklenburg-Vorpommern. Dreimal in der Woche kommt sie für jeweils zwei Stunden, um mit den Kindern zu malen, zu basteln und lesen zu üben.
Heute ist Ingetraut Gillmeister da, um sich gemeinsam mit Zoe* und Emma* einem Buch zu widmen. Zu dritt ziehen sie sich auf den ausgebauten Dachboden des Kinderdorfhauses zurück. Hier sind sie (so gut das bei so vielen Kindern in einem Haus möglich ist) ungestört.
Die beiden Mädchen, die gemeinsam mit fünf anderen Kindern im Alter von sieben bis 16 Jahren im „Nordlicht“ leben, freuen sich über die ungeteilte Aufmerksamkeit der Ehrenamtlichen. Die Hauseltern und Erzieher*innen haben im Alltag nicht immer die Zeit, sich so intensiv mit jedem einzelnen Kind zu beschäftigen. Umso wertvoller sind die Besuche von Ingetraut Gillmeister.
Gillmeister hat früher auf der nahen Peenewerft gearbeitet. Mit dem Ruhestand war die Betriebswirtin auf der Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung. Als für den ehrenamtlichen Vorstand des Familienwerks eine Schatzmeisterin gesucht wurde, meldete sie sich freiwillig.
Die Arbeit im Vorstand allein habe sie jedoch nicht wirklich ausgefüllt, erzählt Gillmeister, die zwar eine Affinität zu Zahlen hat, aber noch viel lieber Zeit mit den Kindern verbringt. Seit ihr Mann verstorben ist, kommt sie noch häufiger ins Kinderdorfhaus als vorher. „Ich bin froh und dankbar, hier eine Aufgabe zu haben“, sagt sie. Ihre beiden erwachsenen Kinder und die zwei Enkel wohnen in der Nähe von Freiburg und in Berlin. Da sei es schön, vor Ort in Wolgast gebraucht zu werden.
Auch über ihre Besuche im Haus „Nordlicht“ hinaus ist die „Ostseeoma“, wie Gillmeister sich auf Instagram nennt, für die Kinder aktiv, strickt und häkelt beispielsweise Mützen für die kleinen Köpfe oder auch mal Puppenkleider: „Die Kinder sagen mir, was sie sich wünschen, und ich mache mich an die Arbeit.“ Auch heute hat sie gehäkelte Geschenke für die Mädchen dabei. Zoe und Emma sind begeistert. Und gehen gleich noch motivierter an ihre Leseübungen.
Die Kinder, sagt Gillmeister, erzählten in den gemeinsamen Stunden auch von sich – davon, was sie erlebt haben und warum sie nicht bei ihren leiblichen Eltern wohnen. „Das fasst mich schon an“, so Gillmeister. „Ich musste erst üben, damit umzugehen.“
Im Gespräch mit der Ehrenamtlichen wird spürbar, dass ihr die Arbeit mit den Kindern bei allen Herausforderungen, die mitunter damit verbunden sind, sichtlich Freude macht. Und sie bewirkt eine Menge: Neulich hat die Klassenlehrerin von Zoe mitgeteilt, dass die Achtjährige echte Fortschritte beim Lesen gemacht habe. Ein toller Erfolg für die Grundschülerin. Und für Ingetraut Gillmeister, die so oft mit Zoe geübt hat.
Sabrina Banze, Bundesverband
*Namen zum Schutz der Kinder geändert
Foto: Konstantin Börner