Auf dem Spielplatz fällt die kleine Lena, 4 Jahre alt, von der Schaukel. Sie weint bitterlich und schreit „Mama!“, so wie es wohl jedes Kleinkind tut, wenn es dringend Trost und Hilfe braucht. Lena lebt seit 3 Jahren im Kinderdorfhaus. Ihre Mutter hat sie seither nicht wiedergesehen. Nick besucht seine Mutter und den größeren Bruder an jedem zweiten Wochenende. In den Ferien kann er auch mal eine ganze Woche dortbleiben, wenn es Muttis Gesundheit zulässt. Nick lebt seit seinem fünften Lebensjahr nicht mehr dort. Als er in die 3. Klasse kam, zog er ins Kinderdorfhaus. Phillip (8) kam mit vier Jahren ins Kinderdorfhaus. Seine Mutti besucht ihn drei- bis viermal im Jahr für ein paar Stunden. Fin weiß, dass er drei Geschwister hat, die er in diesem Jahr leider nur einmal sehen konnte. Zu seinem Vater hat Fin keinen Kontakt.

So lauten viele Familiengeschichten in den Kinderdorfhäusern. Viele Kinder haben keinen, seltenen und unregelmäßigen Kontakt zu ihren Eltern und nur einige können regelmäßig ihre Familien besuchen.

Doch Eltern bleiben Eltern, egal wie selten die Kontakte sind. „Mutti“ und „Vati“ sind immer präsent, auch wenn sie den Alltag nicht begleiten und oftmals weit entfernt leben.

Ein Aufwachsen im Kinderdorfhaus sollte für diese Jungen und Mädchen in unserem Familienwerk bedeuten, dass sie – so gut es eben geht – am „ganz normalen Leben“ teilhaben können. Morgens pünktlich aufstehen, gemeinsam frühstücken, den Kindergarten besuchen, am Nachmittag mit Freunden spielen oder Hausaufgaben erledigen, am Wochenende einen Ausflug machen, Abendbrot essen und zu Bett gehen. Doch was ist schon „normal“, wenn es nicht die leiblichen Eltern sind, die den Tagesablauf begleiten, sondern Pädagoginnen und Pädagogen?

Sind diese Kinder in der Lage, das Kinderdorfhaus als ein „normales Leben“ anzuerkennen?
Ja, das sind sie. Ja, das müssen sie.

Fremdunterbringung heißt es in der Fachsprache der Jugendämter, wenn Kinder nicht bei ihren Familien aufwachsen können. „Fremd sein“ muss das Lebensgefühl dieser Kinder sein, wenn sie im Kinderdorfhaus ankommen. Wo sind jetzt wohl die Eltern? Was machen sie gerade? Wie geht es ihnen? Vermissen sie mich?, so lauten wohl die Gedanken, die oft unausgesprochen bleiben. Und diese Gedanken bleiben, auch wenn Kinder schon viele Jahre im Kinderdorfhaus leben. Ob Mama an meinen Geburtstag denkt? Ob Papa mich bald besucht? Und diese Gedanken müssen von den Pädagogen in Sprache gebracht werden, müssen ernst genommen und verarbeitet werden, sonst werden Kinderherzen krank.

Auch Eltern, die keinen Kontakt zu ihren Kindern mehr haben, sind „da“ und bleiben Eltern. Sie sind da im Vermissen, in den Träumen, in der Wut und Traurigkeit – besonders an Geburtstagen und zu Weihnachten. Und auch dafür muss es Raum und Worte geben, um den Gefühlen der Kinder Anerkennung zu zollen und ihren zu helfen, sich in ihrem Leben im Kinderdorfhaus weniger fremd zu fühlen.

Und diese Worte müssen für Kinderohren gut hörbar und für Kinderherzen gut aushaltbar sein. Kein schlechtes Wort darf über die Eltern fallen, kein Urteil gefällt werden, denn Eltern bleiben Eltern und vor allem bleiben Kinder Kinder.